Anne B. Radge – Je m’appelle Lotte et j’ai huit ans

Originaltitel: En tiger for en engel

Meine Bewertung: 8/10

Ich habe hier jetzt keine deutsche Übersetzung gefunden; sollten Sie diesen Artikel lesen und den deutschen Titel kennen, wäre ich Ihnen dankbar, wenn sie mich rasch per KONTAKT informieren, damit ich das aktualisieren kann. Danke!!

Ein Wunderbarer Roman über die Auswirkungen einer Scheidung und die Wahrnehmung der Situation durch ein kleines Mädchen dem niemand erklärt was hier geschieht und die so alle Ereignisse mit ihrer kindlichen Unschuld aus sich nimmt.

Eine Scheidung in den 60er Jahren:

Lotte ist acht Jahre alt als ihr Vater eines Tages auszieht.

Ihre Eltern haben sie nicht vorgewarnt, sie versteht nicht was geschieht, begreift nicht warum ihr Vater seine Sachen einpackt, warum er das Bett mitnimmt, das in Mamis Zimmer stand – wo soll Mami den jetzt schlafen? – und sie versteht nicht warum ihre Mutter nicht möchte dass er das Foto von ihr mitnimmt, auf dem sie die rote Latzhose trägt – Mami hat sie ja in Wirklichkeit, da hätte Papa doch ihr Bild mitnehmen können.  

Während des gesamten Romans möchten wir den Eltern zurufen sich doch die Zeit zu nehmen und ihrer Tochter die Trennung zu erklären, mit ihr zu sprechen, ihr zuzuhören, sie zu beruhigen und ihr nicht die Last ihrer eigenen Ängste aufzuladen.

Denn Lottes Mutter, von ihrem Ehemann verlassen der zu einer anderen Frau zieht, hört nicht auf sich zu beklagen, über alles, das Geld, die Einsamkeit, die neue Frau an der Seite ihres Mannes, sie versucht die Besuche ihrer Tochter bei ihrem Vater einzuschränken, ja verbietet diesem sogar ihr seine neue Familie vorzustellen…

Lotte steht nun dieser vollkommen niedergeschmetterten Mutter gegenüber die sich vollkommen gehen lässt, die ihr gegenüber ein Verhalten zeigt, welches das kleine Mädchen nicht begreift, du sie muss mit allen Gefühlen alleine fertig werden auch wenn sie diese nicht einmal im Ansatz erfasst und auf Forderungen eingehen die ihre Möglichkeiten überschreiten. Und so bemüht sich Lotte ihre Mutter mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu beruhigen, doch werden diese Bemühungen oftmals falsch aufgefasst oder, noch schlimmer, übersehen.

Ihr Vater, mit dem sie sonntags gewöhnlich lange Spaziergänge machte, erweist sich als ebenso ungeschickt wie ihre Mutter, auf eine sehr viel unterschwelliger aber umso schlimmere Art.

Und so tritt Lotte langsam immer mehr zurück um ihren Eltern den Platz zu lassen.

Glücklicherweise erwarten sie ein Moment des Glücks: Lotte fährt in den Ferien zu ihren Großeltern, auf den Bauernhof wo ihr Vater aufgewachsen ist. Sie wagt es nicht, ihrer Mutter zu sagen wie sehr sie sich darauf freut – aus Angst diese traurig zu machen – erwartet aber den Sommer voller Ungeduld.

Hier ist sie glücklich, hier hat sie nur schöne Erinnerungen, hier kann sie mit der Hündin spielen, hier hat sie ihre eigene Tasse, und selbst wenn Papa sie gebeten hat Mami nichts davon zu erzählen, so kann sie nun ein paar Augenblicke lang ihr Leben vergessen. Hier kann sie Lotte sein.

Dieses Kleine Mädchen beobachtet mit ihren Kinderaugen die Ungeschicklichkeiten der Erwachsenen, die sie ertragen muss, und versucht es allen recht zu machen, und auch ihre Mutter nicht unglücklich zu machen. Sie klammert sich verzweifelt an ihre Kindheit, die sie jedoch schon verloren hat und die sich im Laufe des Romans langsam auflöst.

 

Ein Roman, den alle Eltern die sich trennen lesen sollten

Dies ist ein bewegender Roman der sehr ruhig beginnt, auf dem Bauernhof der Großeltern in Sinnstad, und zunächst lässt man sich von der Situation einschläfern. Doch langsam, während wir die Erinnerungen des kleinen Mädchens kennenlernen und in ihr Leben eindringen, spüren wir das Lotte sich in ihren Missverständnissen verliert, dass sie immer mehr verblasst um den Wünschen ihrer Eltern mehr Raum zu lassen.

Die Autorin hat den Ort und die Zeit gut gewählt, zu der sie uns die Reststücke von Lottes Leben vorführt: Sie versetzt uns zunächst aufs Land, wo dann langsam die Erinnerungen an die Trennung in die Handlung vordringen um dort ihren Schatten bis in die hinterste Ecke des Paradieses zu werfen.

Ich denke, dass dies ein Roman ist den alle Eltern die sich trennen unbedingt lesen sollten.

Er ist nicht moralisierend, aber er ist treffend richtig.

Anne B. Radge gelingt es hier mit Talent die tiefen Spuren zu zeigen, die eine „schlechte“ Handhabung der Trennung auf ein Kind haben kann, wie leicht ein Schweigen Narben in einem Kind hinterlassen kann, wie sehr ein kleines Mädchen verletzt werden kann wenn man sie vor eine Wahl stellt, wie klar es ist dass nicht die Kinder eine solche Situation austragen dürfen.

Trotz alledem bleibt dies ein sanfter Roman, ja fast ein Heimatroman, der es mir im Übrigen auch ermöglicht hat mich meiner eigenen Kindheit zu entsinnen (die sich allerdings nach den 60er Jahren abspielte). So erinnere ich mich gut an die Haarnadel, die zum Säubern der Ohren benutzt wurde, oder auch die Kleider, die von meiner Mutter nach einem Bild genäht wurden, oder auch der Geruch des Landlebens und der Kühe…

Der Stil, in dem die Autorin dieses Buch verfasst hat, ist weit weniger kalt als jener, den sie für „Das Lügenhaus“ (den ersten Band der Neshov-Trilogie) angewandt hat, aber er bleibt genauso passend, etwas kindlicher vielleicht aber noch genauso direkt. Mit unserem Erwachsenenblick und dem Stil, der ihre Unschuld sehr gut wiedergibt, scheinen die Missverständnisse der kleinen Lotte umso herzzerreißender. Lottes Versuche, die Trauer und Sorgen ihrer Eltern zu lindern gehen einem wirklich nahe.

Dies ist also zugleich ein gefühlvoller und harter Roman.

 

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